Zum bevorstehenden Ende des Elbchaussee-Prozesses

Drei Jahre nach dem G20-Gipfel in Hamburg sollen am 10. Juli 2020 die Urteile im Elbchaussee-Prozess fallen. Nachdem über 18 Monate unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegen fünf Genossen verhandelt wurde, wird der Prozess mit einer Erklärung von Loic und den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Anwält*innen ab dem 17.6. wieder öffentlich. Die Absurdität des ganzen Schauspiels wird vor dem Hintergrund deutlich, dass vier der fünf Angeklagten keine eigenhändige Straftat vorgeworfen wird. Sie sollen also exemplarisch bestraft werden: als Rache für den verpatzen Gipfel und mit der Hoffnung, andere Aktivist*innen abzuschrecken.

Wir waren 2017 in Hamburg um gemeinsam mit Genoss*innen aus der ganzen Welt ein Zeichen zu setzen gegen den Gipfel der Herrschenden. Es ging um Alternativen zur kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Politik und darum, gemeinsam solidarisch zu handeln. Bei dem Prozess um die Demo in der Elbchaussee soll genau das kriminalisiert werden. Das Urteil soll einschüchtern und es soll Menschen davon abhalten, die herrschende Politik weiterhin konsequent aus einer linken Perspektive in Frage zu stellen. Das dafür benutze Konstrukt, die Demonstration in der Elbchaussee nicht als eine solche zu werten, macht es möglich, die fünf Genossen für die reine Anwesenheit im Umfeld der Demo zu bestrafen (siehe Hintergrund „Die Demo, die keine sein darf“).

Das Urteil hat allerdings noch weitreichendere Bedeutung:
Es wird einen Präzedenzfall für alle noch kommenden G20-Prozesse schaffen, aber auch weit darüber hinaus. Wenn Menschen permanent mit einer Verurteilung rechnen müssen, sobald sie an einer Demonstration teilnehmen, wird das die Bedingungen für Protest in Deutschland grundlegend verändern.

Der Rondenbarg-Komplex

Der Elbchausseeprozess ist nicht der einzige Prozess nach dem Gipfel in Hamburg, bei dem das Konstrukt der „psychischen Beihilfe“ auf Demonstrationen angewendet werden soll und Menschen fürs „dabei gewesen sein“ vor Gericht gezerrt werden. Auch bei den Prozessen um die Demonstration am Rondenbarg wird es genau darum gehen. Der Demonstrationszug während des Gipfels wurde von der Polizei massiv angegriffen. Viele Demonstrant*innen wurden schwer verletzt und über 60 Menschen im Anschluss festgenommen. Um diesen gewalttätigen Polizeieinsatz im Nachhinein zu rechtfertigen, sollen nach fast drei Jahren voraussichtlich über 100 Personen vor Gericht gestellt werden – einige davon aus Göttingen.

Schon 2017/18 wurde in diesem Zusammenhang gegen Fabio aus Italien u.a. wegen schweren Landfriedensbruchs verhandelt, obwohl auch ihm keine individuellen Straftaten vorgeworfen werden. Grundlage war hier ebenfalls die Behauptung, es habe sich am Rondenbarg nicht um eine politische Demonstration gehandelt, sondern um eine Gruppe, die sich „zu Gewalt verabredet“ habe. Damit würde auch hier die bloße Anwesenheit für eine Verurteilung ausreichen. Der Prozess scheiterte Anfang 2018 aus formalen Gründen.

Die kommenden Rondenbarg-Prozesse sollen in Gruppen von bis zu 19 Angeklagten verhandelt werden. Erste Anklageschriften wurden Ende 2019 verschickt, konkrete Verhandlungstermine sind aber noch nicht angesetzt. Die Vorwürfe umfassen unter anderem gemeinschaftlichen schweren Landfriedensbruch, tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchte schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung und Bildung bewaffneter Banden – wie gesagt unabhängig von individuellen Tatvorwürfen. Im Raum steht die Androhung mehrjähriger Haftstrafen. Damit wird gezielt ein massives Angstszenario gegen möglichst viele Menschen aufgebaut, um sie einzuschüchtern und andere Menschen von der Teilnahme an zukünftigen Protesten abzuschrecken.

Selbst wenn es bei den Anklagen nicht zu einer Verurteilung kommt, stellt der Prozessablauf schon eine Form von Schikane und Bestrafung von linkem politischen Engagement dar. Es ist – vor allem bei dem ersten der geplanten Gruppenprozesse – von einer Prozessdauer von mindestens einem Jahr bei wöchentlichen Prozessterminen auszugehen. Die ständigen Fahrten zu den Gerichtsterminen nach Hamburg machen es unmöglich, den Schulabschluss, das Studium, die Ausbildung oder das Lohnarbeitsverhältnis wie geplant fortzuführen. Damit werden nicht nur bewusst die Perspektiven der Betroffenen zerstört, sondern offensichtlich hofft das Gericht damit schon vor Prozessbeginn die Angst der Betroffenen zu schüren und eine Entsolidarisierung und Spaltung der Angeklagten zu erreichen.

Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass mindestens einer der Gruppenprozesse nach Jugendstrafrecht verhandelt wird. Auch dieser Prozess soll in Hamburg stattfinden und nicht, wie bei Jugendstrafrecht üblich, am jeweiligen Wohnort. Außerdem kommt für die jungen Angeklagten hinzu, dass der Prozess (wie bei der Elbchaussee) eventuell unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Dies bedeutet nicht nur, dass eine solidarische Begleitung der Angeklagten im Gerichtssaal unterbunden wird, sondern auch, dass hier gegebenenfalls Fakten geschaffen werden können, ohne dass die Öffentlichkeit einen Einblick darin hat.

Schon der Elbchaussee-Prozess hat gezeigt, wie wichtig eine kritische Beobachtung ist, wenn hinter verschlossenen Türen durch die Schaffung eines Präzedenzfalles massive Einschränkungen von Freiheitsrechten vorgenommen werden. Deshalb werden wir auch die kommenden Prozesse genau beobachten und solidarisch begleiten, ohne dass wir uns dabei in ihre Kategorien von friedlich und nicht-friedlich spalten lassen!

Wir werden uns immer wieder das Recht nehmen, für unsere Ziele mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln auf die Straße zu gehen!

Freiheit für alle politischen Gefangen!
Freisprüche im Elbchaussee-Prozess!
Einstellung aller weiteren G20-Verfahren!

 

Hintergrund: Die Demonstration, die keine sein darf

Wenn wir uns jetzt mit der Argumentation von Staatsanwaltschaft und Gericht beschäftigen, dann nicht, weil wir den staatlichen Normen von legal und illegal eine tiefere Bedeutung beimessen oder die Notwendigkeit politischer Proteste daran ausrichten wollen. Vielmehr tritt auch in den juristischen Konstruktionen die politische Dimension des Elbchaussee-Prozesses deutlich zutage.

Vier der fünf Angeklagten im Elbchaussee-Prozess werden keine individuellen Straftaten vorgeworfen. Um ihnen trotzdem in Form einer Kollektivschuld für die Demo in der Elbchaussee eins rein zu würgen, bezieht sich die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Mai 2017. Hier wurde eine verabredete Schlägerei zwischen Fans zweier Fußballmannschaften verhandelt. Das Gericht wertete in diesem Fall das „ostentative Mitmarschieren“, also ein bewusst herausforderndes Mitlaufen in einer Gruppe, als psychische Beihilfe für die gewalttätigen Hooligans und bejahte eine Strafbarkeit. Allerdings wird in der Urteilsbegründung explizit betont, dass die verhandelte Situation nicht mit der politischen Motivation bei einer Demonstration zu vergleichen und das Urteil dementsprechend nicht übertragbar ist.

Die Staatsanwaltschaft kann sich jetzt also nur auf dieses Urteil beziehen, wenn die Demonstration in der Elbchaussee nicht als solche gewertet wird. In einem Rechtsgespräch am 6.11.19 deutet das Gericht bereits an, auch dieser Argumentation der Staatsanwaltschaft folgen zu wollen.

Damit wird ein weiteres Mal versucht, den Protesten um den G20-Gipfel ihren politischen Charakter abzusprechen. Wir waren in Hamburg aus Gründen – und würden es wieder tun! Wir wehren uns gegen den Versuch, über eine Entpolitisierung eine kollektive Haftung für Demonstrationen zu konstruieren und die unterschiedlichen Protestformen in „gut“ und „böse“ zu spalten. Dem Versuch, über die drakonische Bestrafung einzelner eine ganze Bewegung einzuschüchtern, setzen wir unsere Solidarität entgegen. Unsere Solidarität gilt allen Beteiligten und von Repression Betroffenen, egal was sie nach den Anschuldigungen vor Gericht gemacht haben sollen. Solidarität ist unteilbar!

 

Dass das zu erwartende Urteil die Bedingungen, unter denen in Deutschland protestiert werden kann, weiter verschlechtert, ist sicher kein Zufall. Es muss in einer Reihe mit zahlreichen Verschärfungen der letzten Jahre gesehen werden.

Zum Beispiel hat sich die Bundespolizei im Oktober 2019 klammheimlich und versteckt in einer Gebührenordnung weitere Instrumentarien „gebastelt“ Menschen zu drangsalieren, die ihnen nicht in den Kram passen. Ab sofort können polizeiliche Willkürmaßnahmen der Bundespolizei den Betroffenen auch noch in Rechnung gestellt werden. So schlagen Personalienfeststellung oder Platzverweis am Rande einer Demonstration schnell mit dreistelligen Summen zu Buche und halten, so vermutlich die Hoffnung der „Freunde & Helfer“, von einem Demobesuch ab.

Zahlreiche Länder haben die Überarbeitung ihrer Polizeigesetze für eine Verschärfung und die Einschränkung von Bürger*innenrechten genutzt. In leicht unterschiedlichen Nuancen wird die Polizei mit deutlich mehr Befugnissen ausgestattet und zum Beispiel der Einsatz von Überwachnungsmaßnahmen oder die elektronische Gesichtserkennung sehr pauschal erlaubt. Durch eine Verlagerung des Aufgabenbereichs von der Aufklärung zur Verhinderung von Straftaten wird der polizeilichen Willkür die Tür noch weiter aufgehalten, ist es ihr doch in Zukunft schon bei sehr schwammig formulierten Verdachtsmomenten erlaubt, aktiv zu werden. Und wen die Polizei im Zweifel „verdächtig“ findet, wissen wir nicht erst seit dem Bekanntwerden von rechtsextremen Strukturen im Polizeiapparat.

Schon im Mai 2017, also noch rechtzeitig vor dem Gipfel in Hamburg wurde die Strafe für den Tatbestand des „Tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte“ massiv verschärft und mit einer Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis belegt. Wie der sogenannte „Widerstand“ war dieser Vorwurf schon vor der Verschärfung unter Polizist*innen sehr beliebt. So reicht doch in der Regel ein bisschen Phantasie und die Absprache mit ein oder zwei Kolleg*innen aus, um alle, die sich prügelnden Polizist*innen auf einer Demo nicht ehrfurchtsvoll vor die Füße werfen, vor Gericht zu zerren. In der Folge sahen sich zahlreiche Menschen, nicht nur bei G20-Prozessen, mit Vorstrafe und Knastandrohung konfrontiert.

Und nicht zuletzt ist der bundesweite #leaveNoOnebehind-Aktionstag Anfang April 2020 ein gutes Beispiel für die „eigenwillige“ Auslegung von Vorschriften durch die Polizei. In zahlreichen Städten wurde unter Beachtung der Corona-Abstandsregeln und Schutzmaßnahmen gegen die Zustände an den europäischen Außengrenzen protestiert. Bundesweit relativ einheitlich (z.B. in Göttingen, Berlin, Frankfurt oder Lüneburg) wurden die Aktionen von der Polizei angegriffen. Aktivist*innen wurden zur Personalienfeststellung von mehreren Polizist*innen eng umlagert oder sogar mit vollem Körpereinsatz zu Boden gebracht. Dabei trugen die Beamt*innen durchgehend keinen Mund-Nasenschutz und respektierten weder gegenüber den Aktivist*innen noch untereinander irgendwelche Abstandsregeln. Enge entstand also erst durch die Polizeieinsätze. Ganz offensichtlich ging es also nicht, wie behauptet um Infektionsschutzmaßnahmen, sondern nur um einen Vorwand unliebsamen Protest von der Straße zu prügeln.

This entry was posted in Uncategorized. Bookmark the permalink.