Der G20-Elbchaussee-Prozess – Rechtsstaatstheater ohne Happy End

Vor einem Jahr wurden im sogenannten Elbchaussee-Prozess die Urteile gefällt. Wir nutzen den Jahrestag, um nochmal einen detaillierten Blick auf einen der bisher größten G20-Prozesse zu werfen. Denn obwohl das Ganze nun ewig her ist, kann der endgültige Ausgang des Verfahrens (schriftliche Urteilsbegründung und Revision stehen noch aus) drastische Auswirkungen auf den rechtlichen Rahmen von Demonstrationen haben.

Es ging dabei um eine Demo im Sommer 2017. Während des G20-Gipfels in Hamburg kam es in den frühen Morgenstunden des 7. Juli zu einer Express-Verwüstung der schicken Elbchaussee. In wenigen Minuten soll dieser zügige Spaziergang eine Millionen Euro teure Zerstörung mit sich gebracht haben.

Drei Jahre nach dem Gipfel wurden am 10. Juli 2020 vom Landgericht Hamburg die Urteile im Elbchaussee-Prozess gefällt. Begonnen hatte der Prozess im Dezember 2018. Über eineinhalb Jahre wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegen Loïc aus Frankreich und vier weitere Genossen aus Frankfurt/Offenbach verhandelt.

Völlig unabhängig davon, ob ihnen individuell etwas vorgeworfen wird, sollen die fünf Angeklagten für diese Demo zur Verantwortung gezogen werden. Die Staatsanwaltschaft konstruierte dafür Anklagepunkte, die die Beschuldigten für zehn Jahre in den Knast bringen sollten. Auch ohne den Forderungen der Staatsanwaltschaft im Detail zu folgen, fand das Gericht einen Weg, die Angeklagten wegen Landfriedensbruchs und Beihilfe zur Brandstiftung – und damit für ihre Anwesenheit – zu bestrafen.

Am 10. Juli 2020 wurde Loïc zu drei Jahren Knast ohne Bewährung verurteilt. Die Frankfurter/Offenbacher Genossen erhielten 15 bzw. 18 Monate auf Bewährung und die jugendlichen Angeklagten müssen, wenn die Urteile rechtskräftig werden, jeweils 120 Arbeitsstunden ableisten.

Worum es hier geht, ist offensichtlich: Die Ordnung wurde gestört und dafür muss irgendwer büßen, es braucht Schuldige. Ganz der Forderung des damaligen Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz nach „sehr harten Strafen“ entsprechend.

Wir möchten nun einen Blick auf den Prozessverlauf werfen und eine Einordnung des Prozesses und des Urteils vornehmen. Um eine juristische Betrachtung kommen wir dabei nicht ganz herum. Aber hier geht es uns vor allem darum, den Prozess politisch und gesellschaftlich einzuordnen und darzulegen, warum es sich dabei um einen politischen Prozess und damit auch um ein politisches Urteil handelt.

Mit politischem Prozess meinen wir, dass die Taten in einem politischen Kontext stehen, bei dem auch die politischen Überzeugungen der Aktivist*innen eine Rolle spielen. Im Kern ging es den Repressionsorganen nie um die Sachbeschädigungen, sondern um die Frage nach Macht und Ordnung. Der Prozess sollte eine abschreckende Wirkung haben und zugleich den Einsatz der polizeilichen Mittel im Zusammenhang mit dem Gipfel legitimieren. Wie zu erwarten, werden die gesellschaftlichen Umstände, die zu Protesten führen, im Gericht nicht erwähnt bzw. in der Beweisführung nicht anerkannt. Gerichtsprozesse finden nicht im gesellschaftlich luftleeren Raum statt und Urteile sind und können deswegen nie ‚neutral‘ sein. Sie sind immer auch Ausdruck des aktuellen politischen Klimas. Wir wollen deshalb, bevor wir zum eigentlichen Prozess kommen, die gesellschaftliche Stimmung in der Zeit um den Gipfel etwas genauer betrachten.

Politische Stimmungsmache, autoritäre Formierung und Kriminalisierung

In den politischen Maßnahmen vor dem Gipfel zeigte sich eine deutliche Haltung, die darauf abzielte, Protest zu delegitimieren und zu verhindern. So wurde im Mai 2017, also pünktlich zum Gipfel, die Strafe für den Tatbestand des „Tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte“ (§ 114 StGB) massiv verschärft und mit einer Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis belegt. Wie der sogenannte „Widerstand“ war dieser Vorwurf schon vor der Verschärfung unter Polizist*innen sehr beliebt. Ein bisschen Phantasie und die Absprache mit ein oder zwei Kolleg*innen reichen aus, um Menschen willkürlich zu beschuldigen.

Mit Hamburg als Veranstaltungsort und dem autoritären Hardliner Hartmut Dudde als Einsatzleiter der Polizei war von der Politik schon eine klare Richtung vorgegeben: Dudde hat sich im Laufe seiner Karriere mit der Unterbindung linken Protests hervorgetan, wobei er rechtliche Vorgaben regelmäßig und gezielt überging. Kurz vor Gipfelbeginn bekräftigte er intern: Ein Wasserwerfer habe keinen Rückwärtsgang. Nicht Blockaden, sondern erfolgreiche Straßenräumungen seien zu melden.

In den Tagen des Gipfels wurde die Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt. In einer 38 Quadratkilometer umfassenden „Sicherheitszone“ war sie komplett außer Kraft gesetzt. Demonstrationen und Kundgebungen waren in diesem Gebiet, das einen Großteil der Stadt zwischen Elbe im Süden und Flughafen im Norden umfasste, verboten. Ein Camp von Protestierenden wurde ebenfalls komplett verboten. Dem folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung und eine rechtswidrige, brutale Räumung des inzwischen wieder genehmigten Camps durch die Polizei.

Dies sind nur einige wenige Beispiele für die Linie von Politik und Polizei, die sich auch im medialen Bild des Gipfels widerspiegelte.

Über weite Strecken gelang es der Polizei mit einer umfassenden Medienkampagne ihre Sichtweisen und Interpretationen zu platzieren. Weit mehr als eh schon üblich wurde mit extrem tendenziösen Pressemitteilungen, falsch kommentierten Videoaufnahmen und Lügen auf Socialmedia-Kanälen in den öffentlichen Diskurs eingegriffen. Immer das auch von der Politik gesteckte Ziel vor Augen, den Protesten jegliche Legitimation abzusprechen. Gab es zunächst auch kritische, die Polizeistrategie und -einsätze hinterfragende Stimmen, verstummten diese im Laufe des Gipfels fast vollständig.

In den Wochen und Tagen vor dem Gipfel war das Bild in den Medien und damit auch die öffentliche Stimmung dagegen noch etwas differenzierter. Einerseits wurden bewusste Dramatisierungen bis hin zu unverhohlenen Drohungen unhinterfragt übernommen. Wie bspw. Äußerungen von Hamburgs Innensenator Andy Grote, in denen er die Menschen ermahnte, Konvois mit ausländischen Politiker*innen in Ruhe zu lassen, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass die dort eingesetzten Sicherheitskräfte gegen die Blockaden vorgehen und es Tote geben könnte.

Auf der anderen Seite gab es neben den von der Polizei zum Schutz der Bevölkerung als alternativlos dargestellten Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit aber auch Bilder der von diesen Maßnahmen genervten Bevölkerung. Genauso passten die Bilder der meist jungen Menschen, die beim Versuch Zelte aufzubauen von der Polizei mit Schlagstöcken, Tritten und Pfefferspray angegriffen wurden, so gar nicht zu dem Bild der vorher angekündigten Krawalltourist*innen.

Eine kurze Phase einer polizeikritischen Berichterstattung, die auch die Anliegen der Proteste berücksichtigte, war die Folge. Sie erreichte Donnerstagabend vor dem Gipfel, nach der brutalen Niederschlagung der Welcome-to-Hell-Demo ihren Höhepunkt.

Aber schon wenige Stunden später, spätestens mit den Bildern aus der Elbchaussee Freitagvormittag, kippte die Stimmung. In den Medien wurden fast ausschließlich die Pressemitteilungen der Polizei übernommen und die Frage nach Verhältnismäßigkeit und Demonstrationsrecht verschwanden gänzlich aus der Berichterstattung. Die Polizei hingegen legitimierte in ihren Pressekonferenzen und -mitteilungen unter anderem den bewaffneten Einsatz des SEKs in der Schanze durch Falschmeldungen. Eine später durch ihre eigenen Videoaufnahmen widerlegte Geschichte, dass Polizist*innen mit Gehwegplatten von Hausdächern aus beworfen wurden, diente als Rechtfertigung für den Einsatz der schwerbewaffneten Kräfte. Ähnliche Behauptungen legitimierten im weiteren Verlauf auch die Gewaltorgien der eingesetzten Polizeikräfte gegen alle Menschen, die sich zu der Zeit auf und um die Schanze versammelt hatten.

Mit Hilfe der Medien konnte die Polizei hier den Grundstein für ein rein auf Gewalt ausgerichtetes Bild der Proteste legen, das deren öffentliche Wahrnehmung, aber auch die Atmosphäre, in der die G20-Prozesse später vor Gericht stattfinden, maßgeblich bestimmt. Die Pressevertreter*innen machten sich zum Sprachrohr der Polizei, die endlich zeigen konnte, dass alle bereits im Vorfeld getroffenen Maßnahmen richtig gewesen seien, da es ansonsten noch viel schlimmer gekommen wäre.

Dieses Bild blieb auch nach dem Gipfel weitgehend bestehen. Kritische Berichte zum polizeilichen Angriff auf die Demo am Rondenbarg, mit mehreren schwer verletzten Demonstrant*innen, erreichten nie die Reichweite der von der Polizei vorgegebenen Dramatisierungen. So war die Berichterstattung national und international nach wie vor weitgehend mit den Pressemitteilungen der Polizei identisch und von Vorwürfen gegen die Aktivist*innen geprägt. Diese seien antidemokratisch und hätten den Protest nur zur Randale missbraucht. Zugleich wurde in Deutschland der Ruf nach einer möglichst harten Bestrafung der vermeintlichen Täter*innen laut.

Das Ganze gipfelte in einer Welle von Öffentlichkeitsfahndungen, die von privaten und staatlichen Medien unterstützt wurden. Entsprechend der vorher aufgebauten Stimmung wurden die abgebildeten Personen bereits für schuldig erklärt und teilweise mit sexistischen und rassistischen Zuschreibungen der Öffentlichkeit vorgeführt.

Die meisten Medien übernahmen die Darstellungen unhinterfragt und ungefiltert und boten somit riesige Bühnen, die ausschließlich die Sicht der Herrschenden auf den Gipfel zeigten. Damit wird auch die gesellschaftliche Atmosphäre bestimmt, in der die Prozesse nach dem Gipfel stattfanden und noch stattfinden.

Die ersten Prozesse

Nach dem Gipfel waren es vor allem Aktivist*innen ohne deutschen Pass, die mit der Begründung einer möglichen Fluchtgefahr länger in Untersuchungshaft saßen. So waren sie es auch, die die ersten Prozesse über sich ergehen lassen mussten. Entsprechend der beschriebenen Stimmung nach dem Gipfel waren die Strafmaße exorbitant hoch. Zum Beispiel wurde der junge Niederländer Peike Ende August 2017 für zwei Flaschenwürfe, deren einziger Beleg in der zweifelhaften Aussage der ihn festnehmenden Beamt*innen bestand, zu 2 Jahren und 7 Monaten Knast verurteilt. In den folgenden Berufungen wurden einige Urteile etwas abgemildert. Einen Effekt hatte das aber vor allem für die Wahrnehmung, dass die immer noch krassen Strafen als nicht mehr ‚ganz so schlimm‘ erschienen.

Zu den ersten Prozessen nach dem Gipfel gehörte auch das Verfahren gegen Fabio. Er wurde wegen der von der Polizei in der Straße „Am Rondenbarg“ zerschlagenen Demo angeklagt. Anders als bei den anderen Prozessen wurden ihm aber selbst keine Straftaten vorgeworfen, verurteilt werden sollte seine reine Anwesenheit. Erstmals in den G20-Prozessen kam dazu das sogenannte Hooligan-Urteil vom Bundesgerichtshof (BGH) aus 2017 auf den Tisch. Demnach habe es sich am Rondenbarg nicht um eine politische Demonstration gehandelt, sondern um eine Gruppe, die sich „zu Gewalt verabredet“ habe. Nach dem BGH-Urteil reicht damit die bloße Anwesenheit für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs aus, selbst wenn der Person selbst keine konkreten Straftaten vorgeworfen werden. Dass es darin um eine Schlägerei von Hooligans ging und der BGH die automatische Übertragung auf Demonstrationen ausgeschlossen hat, wurde dabei bewusst ignoriert.

Fabios Prozess platzte im Februar 2018, weil die zuständige Richterin ausfiel. Auch wenn der Prozess bis heute nicht neu aufgerollt wurde, besteht die Anklage weiterhin und Fabio muss damit rechnen, jederzeit wieder vor ein Gericht gezerrt zu werden. Das Konstrukt der entpolitisierten verabredeten Gewalttat wurde von der Staatsanwaltschaft aber nicht nur in Fabios Prozess, sondern auch im Elbchaussee-Prozess benutzt, um die Strafforderungen ohne individuell nachweisbare Taten in die Höhe zu treiben.

Timeline

7./8.7.17 G20-Gipfel in Hamburg und entschiedener, vielfältiger Protest dagegen
Hambuger Gitter, Film über die Proteste gegen den Gipfel (YouTube)
7.7.17 Demonstration in der Elbchaussee
27./28.7.18 bundesweit Hausdurchsuchungen, in Frankfurt am Main und Offenbach werden vier Menschen festgenommen, zwei gelten als Heranwachsende und müssen am nächsten Tag freigelassen werden
Solidarität mit den Frankfurter G20-Gefangenen! (UWS)
Bundesweite Hausdurchsuchungen wegen G 20 (radio dreyecksland)
18.8. 18 Festnahme von Loïc in Frankreich (Beschreibung in der Prozesserklärung von  Loïc (UWS) )
Oktober 18 Auslieferung von Loïc nach Deutschland, U-Haft Holstenglacis
9.11.18 Aussetzung der U-Haft für die beiden Genossen aus FFM/Offenbach durch Landgericht, wird vom OLG sofort kassiert; in der Folge Befangenheitsantrag der Staatanwaltschaft gegen die Richter*innen, der aber nicht durchkommt
Landgericht nicht hart genug (taz)
8.12.18 Text von Loïc zu Haftbedingungen (UWS)
18.12.18 Prozessbeginn
Göttinger NoG20-Soli-Newsletter #8
10.1.19 Ausschluss der Öffentlichkeit auf Antrag der Staatanwaltschaft
G20-Prozess ohne Presse (taz)
Anfang Februar 2019 Einlassung der vier Angeklagten aus FFM/Offenbach
14.2.19 die beiden Genossen aus FFM/Offenbach aus U-Haft entlassen, Haftbefehl aufgehoben
1.3.19 Gericht beschließt die Ladung von deutlich mehr Zeug*innen, weil auf Bullenberichte kein Verlass und Videos „suggestiv bearbeitet“ seien
Suggestiver Quatsch (jungle wolrd)
18.6.19 zweiter Befangenheitsantrag der Staatsanwaltschaft wird abgelehnt
Richterin doch unbefangen (taz)
26.6.19 Gericht lehnt Antrag auf Haftverschonung (bzw. Aufhebung des Haftbefehls) ab, Loïc muss weiter im Knast bleiben
6.11.19 Rechtsgespräch zwischen Richter*innen, Anwält*innen und Staatanwaltschaft
Elbchaussee-Prozess: zum Rechtsgespräch am 06.11.19 (UWS)
18.12.19 Loïc kommt gegen Auflagen frei
Freiheit für Loic (nun etwas ausführlicher) (UWS)
12.1.20 Text von Loïc zum Knast und zur Freilassung
Die Mauern niederreißen, die den Knast von der Außenwelt trennen (UWS)
Frühjahr 2020 Prozess zieht sich, weil viele Termine wegen Corona ausfallen
17.6.20 Öffentlichkeit wieder zugelassen, Prozesserklärung von Loïc (UWS)
9.7.20 Zweite Prozesserklärung von Loïc (UWS)
10.7.20 Urteil
Elbchaussee-Ausschreitungen: Fünf junge Männer verurteilt (NDR)
»This is not justice, this is shit« (analyse & kritik)

Der Elbchaussee-Prozess startet

Im Dezember 2018 startete der Elbchaussee-Prozess, mit dem wir uns in diesem Text näher auseinandersetzen. Doch auch dieser Prozess begann eigentlich längst vor der offiziellen Eröffnung. So wurde Loïc am 18. August 2018 festgenommen und nach Hamburg verschleppt, die vier Genossen aus Frankfurt und Offenbach schon am 27. Juni 2018 nachdem bei ihnen Hausdurchsuchungen stattfanden. Da zwei der vier Genossen zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Straftaten noch minderjährig waren, wurden sie bald wieder aus der U-Haft entlassen. Loïc und die zwei anderen Genossen aus Frankfurt/Offenbach blieben aber in U-Haft, deren Bedingungen von Anfang an katastrophal waren.

So berichteten die Soligruppen von der anfänglichen Isolation der Angeklagten und dass der Kontakt untereinander verhindert wurde. Außerdem kam es zu Zelldurchsuchungen und nächtlichen „Lebendkontrollen“, bei denen die Angeklagten ständig geweckt wurden. Damit wird deutlich, wie die Gefangenen gesehen wurden – als Schuldige für alles, was rund um den G20 Gipfel geschah.

Besonders eindrücklich ist die Geschichte von Loïc, der in einer temporären Zelle im Keller des Gerichtsgebäudes einen toten Vogel fand und diesen unterm Pullover in den Verhandlungssaal schmuggelte, um dort auf die unmenschlichen Haftbedingungen hinzuweisen.

Auch im Gericht war die U-Haft schon vor Prozessbeginn nicht unumstritten. So fand bereits am 9.11.2018 eine Haftprüfung bezüglich zwei der Genossen statt, bei der die Richterin die Freilassung anordnete. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Beschwerde ein und nach wenigen Stunden in Freiheit kam das Urteil des Oberlandesgerichts – die Angeklagten mussten zurück in die U-Haft. Spätestens als sie sich daraufhin selbständig wieder zurück in Haft begaben, hätte eigentlich die von der Staatsanwaltschaft angeführte Fluchtgefahr widerlegt sein müssen. Stattdessen blieben sie – nicht zuletzt wegen der ebenfalls von der Staatsanwaltschaft hochgetrieben Straferwartung – weiter in Haft.

Um genau diese Straferwartung ging es auch bei einem Befangenheitsantrag, den die Staatsanwaltschaft rund um die Auseinandersetzung zur U-Haft gegen die Richterin stellte. Zur Einordnung: Das ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Es passiert zwar gelegentlich, dass im Rahmen eines Gerichtsverfahrens Befangenheitsanträge gestellt werden. Normalerweise kommen diese jedoch von der Verteidigung. Dass sich die Staatsanwaltschaft mit einem solchen Antrag gegen ‚die eigene‘ Vorsitzende richtet, ist dagegen sehr selten und wurde dementsprechend auch medial skandalisiert.

Inhaltlich ging es dabei um die oben bereits erwähnte Auseinandersetzung um die U-Haft. Konkret darum, dass die vorsitzende Richterin die Fluchtgefahr bei den Angeklagten für gering hielt, da sie von einem „geringen“ Strafmaß von bis zu drei Jahren Haft ausging. Diese Einschätzung der Richterin sah der Staatsanwalt als Parteinahme an und stellte den Befangenheitsantrag.

Der eigentliche Prozess beginnt also in einem durch Polizei, Medien und Staatsanwaltschaft extrem aufgeheiztem Klima. Die Angeklagten müssen sich nicht nur mit den vorgeworfenen Straftaten, sondern auch einer weitgehenden Vorverurteilung auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang steht auch eine Entscheidung des Gerichts am zweiten Prozesstag, die weitreichende Folgen für die Unterstützung der Angeklagten und die öffentliche und solidarische Prozessbegleitung hatte.

Öffentlichkeitsausschluss und trotzdem solidarische Begleitung

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft schloss das Gericht die Öffentlichkeit bis zu den Plädoyers von der Verhandlung aus – Gegen den Willen der Angeklagten.

Begründet wurde das mit einem sogenannten Erziehungsinteresse gegenüber zwei der fünf Angeklagten, die während des G20-Gipfels unter 18 Jahre alt waren sowie dem Schutz vor einer Vorverurteilung der Angeklagten durch eventuell reißerische Berichterstattung in der Presse. Dieses Kind war in den eineinhalb Jahren seit dem Gipfel aber wohl schon gründlich in den Brunnen gefallen. Mal ganz abgesehen davon, dass die Staatsanwaltschaft weiterhin am Prozess teilnimmt und ihre Sicht ungeniert in der Presse verbreiten kann.

Die Staatsanwaltschaft machte keinen Hehl daraus, dass es ihr darum ging, eine solidarische Prozessbegleitung zu verhindern. In der vom Gericht übernommen Begründung wurden unter anderem die Standing Ovations von Freund*innen und Verwandten der Angeklagten an den ersten beiden Verhandlungstagen sowie die Empfehlung zur Aussageverweigerung durch die Rote Hilfe herangezogen, um zu begründen, dass die gezeigte Solidarität mit den Angeklagten für diese ‚erziehungsschädlich‘ sei.

Es sollte also explizit eine solidarische Prozessbegleitung verhindert werden. Besonders perfide ist das, wenn man bedenkt, dass einige der Angeklagten inhaftiert waren. Mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit wurde ihnen also auch die Möglichkeit genommen, wenigstens im Gerichtssaal Freund*innen zu sehen und emotionale Unterstützung zu bekommen.

Entgegen der Behauptung des Gerichts, im Schutzinteresse der Angeklagten gehandelt zu haben, forderten diese allesamt einen öffentlichen Prozess. Demnach nahmen die Angeklagten die Öffentlichkeit als Schutz wahr und es dürfe auch das große öffentliche Interesse nicht ignoriert werden, da es um die grundrechtlich sehr relevante Frage geht, was eine Demonstration ist.

Trotz allem gab es eine sehr präsente Unterstützung und Soli-Arbeit außerhalb des Gerichtssaales: Kundgebungen während der Gerichtstermine vor der Tür, Knast-Spaziergänge, Info-Veranstaltungen, Unterstützung bei Fahrtkosten und Schlafplätzen, Postkartenaktionen in den Knast, Demos zu Prozessbeginn und -abschluss, Geburtstagskundgebungen vor’m Knast und vieles mehr.

Auch die Angeklagten selbst schafften es, ihre Sicht nach außen zu tragen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Loïc brachte Eindrücke über seine Situation im Knast noch vor Prozessbeginn über Unterstützer*innen nach draußen und schrieb danach selbst zwei öffentliche Erklärungen, die nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft sowie zum Prozessende veröffentlicht wurden.1) Es war dem Gericht somit nicht vollständig gelungen die Öffentlichkeit vom Prozess und insbesondere von der Perspektive der Angeklagten fernzuhalten.

Der Ausschluss der Öffentlichkeit schlägt sich aber auch in dem nieder, was wir hier über den Prozessverlauf berichten können. Wir müssen uns im Folgenden also auf einige Kernpunkte beschränken.

Bullen lügen

Dass Cops lügen ist für uns ja nichts Neues, dass es selbst dem Gericht auffällt, ist schon etwas bemerkenswerter. Im März 2019 erklärte das Gericht, dass auf das „geschriebene Wort wenig Verlass“ sei und meint damit die Polizeiakten. Nach Recherchen des NDR sollen zivile Zeug*innen bei ihrer Vernehmung während der Hauptverhandlung Aussagen, die die Polizei in deren Namen in der Ermittlungsakte vermerkt hatte, entschieden bestritten haben. Zeug*innen sollen Polizeivermerke als „Quatsch“ bezeichnet und beteuert haben, sie hätten solche Aussagen nie gemacht.

Offensichtlich war folgendes passiert: Nach der Demo in der Elbchaussee zogen Ermittler*innen los, Zeug*innen zu finden, die über Videos und Fotos verfügen, die für Identifizierungen von Teilnehmenden geeignet sind. Es ging also in allererster Linie darum, gut verwertbares Fahndungs-Material zu finden, um ‚Verantwortliche‘ ausfindig zu machen. Sämtliche Zeug*innenangaben zum Ablauf etc. waren für die Ermittelnden in diesem Moment nicht maßgeblich und wurden so, wie es die Polizist*innen brauchten, und eben zum Teil falsch wiedergegeben.

Spätestens zu dem Zeitpunkt als Polizei und Staatsanwaltschaft klar wurde, dass ‚die Verantwortlichen‘ nicht zu ermitteln sind oder vielleicht auch gar nicht existieren, rückten diese Neben-Bemerkungen in den Mittelpunkt. Das erklärte Ziel war, irgendwen verurteilen zu können, egal für was. Den wenigen Personen, die überhaupt ermittelt werden konnten, sind allerdings keine individuellen Straftaten nachzuweisen. Mit einem Böllerwurf und einer verschobenen Mülltonne hatte die Polizei nur Bagatellen für zwei der fünf Angeklagten zu bieten.

Die Staatsanwaltschaft versuchte es deswegen mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs und kam, wie oben erwähnt, mit besagtem Hooligan-Urteil um die Ecke. Um die These der verabredeten Gewalttat jenseits einer Demo zu stützen, wurde im Folgenden das gesammelte Material massiv frisiert und die Staatsanwaltschaft versuchte mit einer gemeinsamen Planung und Organisation zu argumentieren.

Demnach haben sich die Teilnehmenden vorab im Donners Park getroffen, sich dort schwarze Kleidung angezogen und seien dann losmarschiert. In der Anklage stützt sich die Staatsanwaltschaft dabei auf vermeintliche Zeug*innenaussagen wie diese: „Etwa eine halbe Stunde später ging das Drama los. Plötzlich waren sie alle schwarz gekleidet und formierten sich zu einem schwarzen Block“. Allerdings bestritten mehrere Zeug*innen in der Hauptverhandlung, dies gegenüber der Polizei so gesagt zu haben. Das hätten sie gar nicht gekonnt, da sie es nur im Vorbeilaufen wahrgenommen haben, gar keine Sicht darauf hatten oder ähnliches.

Dass die sogenannten Ermittlungen sehr fragwürdig waren, dürfte auch den beteiligten Polizist*innen klar gewesen sein. Vor Gericht wollte jedenfalls niemand Verantwortung übernehmen. So gab ein an Videozusammenschnitten beteiligter Polizist an, er sei kein „Ermittler“ gewesen, er will ausschließlich Anweisungen von „Ermittlern“, deren Namen er nicht erinnern konnte oder wollte, zu Zeitpunkten, an die er sich nicht mehr erinnert, entgegengenommen und diese dann in einer Art und Weise, an die er sich auch nicht erinnert, umgesetzt haben. Wenig verwunderlich stellte sich bei der Vernehmung des Ermittlungsführers der „Soko Schwarzer Block“ heraus, dass angebliche Ermittlungsergebnisse im Abschlussbericht wohl doch eher „Arbeitshypothesen“ waren und nicht dazu taugen eine Anklage darauf zu stützen. Fazit: die Cops haben das in ihrem Bericht geschrieben, was ihnen ins Bild passt. Na sowas.

Ähnliches bei den Videos. Hier sprechen die Richter*innen von „suggestiven Bearbeitungen“ durch die Polizei, durch die die Videos aussagekräftiger wirkten als sie tatsächlich sind. All das führte dazu, dass die Richter*innen den Berichten nicht mehr trauen wollten und die Vernehmung von deutlich mehr Zeug*innen als geplant anordneten. Alles, um sich selbst ein Bild zu machen. Das war’s dann aber auch schon wieder.

Obwohl die gesamte Anklage offensichtlich auf Lügen und Phantastereien der Polizei aufgebaut war, beendeten die Richter*innen den Prozess nicht. Das Ziel, wenigstens einige wenige irgendwie zu verurteilen, wurde weiter verfolgt. Zumal zu diesem Zeitpunkt ja auch schon die über U-Haft abgepressten Eingeständnisse von vier Angeklagten vorlagen, vor Ort gewesen zu sein.2) Die Staatsanwaltschaft hätte also zufrieden sein können, war sie aber nicht. Sie wittert Parteilichkeit, weil die Richter*innen den Lügen der Polizei nicht einfach glauben wollten und versuchte sie über einen erneuten Befangenheitsantrag loszuwerden.

Die zusätzlichen Befragungen brachten dann wenig neue Erkenntnisse, außer dass unter den Anwohner*innen der Elbchaussee eine große Verbitterung über ignorierte Notrufe, eine abwesende Polizei und eine Feuerwehr, der von der Polizei das Löschen verboten wurde, besteht. Ein aufgrund der manipulierten Videos in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten zur Identifizierung von Loïc wurde, nachdem es nicht das gewünschte, einer Verurteilung dienende, Ergebnis brachte, von den Richter*innen schlicht ignoriert und durch die eigene Wahrnehmung ersetzt. Immer das Ziel vor Augen, irgendwen für irgendwas verurteilen zu können. Und genau dieses von Anfang an feststehende Ziel entlarvt den gesamten Prozess als politisch motiviertes Rechtsstaats-Theater.

Demo oder keine?

Wie bereits erwähnt, sollten die Angeklagten mangels individuell zuordenbarer Straftaten für Landfriedensbruch in der Elbchaussee am Morgen des 7.7.2017 verurteilt werden.

„Landfriedensbruch“

Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs ist in den §§ 125 und 125a StGB geregelt und soll per Definition folgende Handlungen bestrafen: „Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohung von Menschen mit einer Gewalttätigkeit die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden; wer als Täter oder Teilnehmer sich beteiligt oder auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern.“ Dabei werden verschiedene Formen unterschieden: der gewalttätige, der bedrohende und der aufwieglerische Landfriedensbruch. Landfriedensbruch wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, der besonders schwere Fall des Landfriedensbruchs wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.

Dabei ist wichtig zu beachten, dass § 125 StGB sowohl die Täterschaft als auch die Teilnahme an den Tathandlungen unter Strafe stellt. Es ist also unerheblich, ob man die Tat eigenhändig, als mittelbare*r Täter*in durch eine*n andere*n, als Mittäter*in, als Anstifter*in oder als Gehilfe *in begeht – man ist immer Täter*in im Sinne des § 125 StGB.

Dass der Landfriedensbruch-Paragraf in der Praxis schon regelmäßig auf politische Aktionen angewendet und damit zur Kriminalisierung von Aktivist*innen genutzt wird, ist klar. Juristisch ist die Definition aber umkämpft, insbesondere wenn es um Menschenmengen geht, die unter den Schutz des Versammlungsrechts fallen können.

Aber auch für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs braucht es „individuelle Tatbeiträge“. Es muss also aus der bloßen Anwesenheit ein individueller Tatbeitrag herkonsturiert werden. Die Staatsanwaltschaft zog in ihrer Anklage dafür – wie auch im oben erwähnten Prozess gegen Fabio – das sogenannte Hooligan-Urteil des BGH aus 2017 heran. In Anlehnung daran sei der individuelle Tatbeitrag der Angeklagten das „ostentative Mitmarschieren“ in der Elbchaussee gewesen, womit sie die „gewaltbereiten Gruppenmitglieder“ unterstützt hätten.

In dem Urteil des BGH ging es allerdings um eine verabredete Schlägerei zwischen Fans zweier Fußballmannschaften. Das Gericht wertete in diesem Fall das „ostentative Mitmarschieren“, also ein bewusst herausforderndes Mitlaufen in einer Gruppe, als „psychische Beihilfe“ für die gewalttätigen Hooligans und bejahte eine Strafbarkeit. Und zwar auch dann noch, wenn die betreffende Person den Ort des Geschehens längst verlassen hat. Allerdings wird in der Urteilsbegründung explizit betont, dass die verhandelte Situation nicht mit der politischen Motivation bei einer Demonstration zu vergleichen und das Urteil dementsprechend nicht ohne Weiteres übertragbar sei. Aus diesem Grund ging es im Prozess in großen Teilen darum, ob es sich in der Elbchaussee um eine Demonstration gehandelt habe oder nicht.

Die Staatsanwaltschaft findet natürlich, dass es keine Demo war, sonst würde ihr Konstrukt ja nicht mehr so gut funktionieren. Demnach habe es bei den gut 200 Anwesenden einen „gemeinsamen Tatentschluss“ gegeben, es sei ausschließlich um Zerstörungswut gegangen und die Straftaten seien durch „gewollt arbeitsteiliges Zusammenwirken“ verübt worden. Wiederholt wird von der angeblich perfekt durchgeplanten Aktion berichtet. Als Indiz für die minutiöse Planung des Zuges muss unter anderem das Wechseln von Kleidung herhalten. Die Aufgabe der Angeklagten habe darin bestanden „sich in die geschlossene Formation einzugliedern, ostentativ mitzumarschieren und hierdurch Solidarität mit den gewaltbereiten Gruppenmitgliedern zu zeigen und ihnen psychischen und tatsächlichen Rückhalt zu gewähren.“ Belege gibt es für diese Behauptungen der Staatsanwaltschaft allerdings keine, auch in der Anklage werden keine belastbaren Belege angeführt. Wie im vorigen Abschnitt erklärt, basiert die ganze Anklage ja hauptsächlich auf den „Arbeitshypothesen“ aus Kreisen der Soko Schwarzer Block.

Die Verteidiger*innen argumentierten dagegen, dass der Aufzug in der Elbchaussee keine der Anwendung von Gewalt dienende Aktion gewesen sei und eindeutig als Demonstration zu erkennen war. Dafür sprechen unter anderem der Zeitpunkt am Aktionstag „Block G20“, der überwiegend nicht gewalttätige Anteil der Teilnehmenden sowie ein voran getragenes Transparent. Im Laufe des Prozesses wurde von mehreren Augenzeug*innen und einem Sachverständigen insbesondere das beschriebene Mitlaufen und das angebliche Wechseln der Kleidung als durchaus typisches Demo-Verhalten eingeordnet. Auch das lässt die Staatsanwaltschaft in ihrem erfolgreichen Versuch der Entpolitisierung des Geschehens unter den Tisch fallen.

An dieser Stelle möchten wir noch einmal deutlich machen: Wir gehen der Frage, ob es sich um eine Demonstration gehandelt hat, hier nach, um den Prozessverlauf und dahinter stehende Positionen deutlich zu machen. Für uns stellt sich die Frage in diesem Sinne überhaupt nicht. Das war eine politische Aktion. Punkt. Die können wir sinnvoll finden oder auch nicht. Aber die hier besprochene Frage ist eine juristische. Danach, welche Paragrafen und Präzedenzfälle anwendbar sind etc. Das ist nicht die Grundlage für unsere politischen Bewertungen und Einordnungen.
Gleichzeitig ist uns bewusst, dass juristische Auslegungen ganz praktische Auswirkungen auf unseren politischen Alltag haben.

Was würde ein Urteil im Sinne der Anklage also politisch bedeuten?

Die Frage, ob es sich um eine Demo gehandelt hat oder nicht, ist wichtig dafür, wie leicht sich das Hooligan-Urteil übertragen und anwenden lässt. Also wie leicht es künftig sein wird, Menschen wegen der Teilnahme an Demonstrationen für Landfriedensbruch zu verurteilen. Wenn eine Versammlung nicht als eine Demo bewertet wird, kann die Argumentation des Hooligan-Urteils automatisch angewendet werden, um einen Menschen wegen Landfriedensbruchs zu verurteilen. Wenn es als Demo anerkannt wird, schützt das nicht automatisch vor einer Anwendung des Hooligan-Urteils, erschwert sie aber. In dem Fall ist eine genauere Überprüfung der Umstände notwendig.

Geben wir uns keinen Illusionen hin, im Strafrecht geht beim Landfriedensbruch auch so schon ne ganze Menge. So reicht zum Beispiel unterstützendes Rufen bereits jetzt für eine Verurteilung aus. Wenn hier aber ein Präzedenzfall für die Anwendung des Hooligan-Urteils auf Demonstrationen geschaffen wird, braucht es zukünftig überhaupt keinen Nachweis einer individuellen Handlung mehr. Dann reicht es, irgendwo gewesen zu sein, um für alles während und nach Verlassen des Geschehens verantwortlich gemacht werden zu können.

Ohne die schriftliche Urteilsbegründung lässt sich noch nicht beurteilen, inwieweit das Gericht der Argumentation der Staatsanwaltschaft inhaltlich folgt. Das wird auch relevant sein für die Rolle dieses Prozesses als Präzedenzfall und damit die Bedeutung für die Versammlungsfreiheit.

Aber zurück zum eigentlichen Elbchaussee-Prozess. Eine auf tendenziösen Ermittlungen sowie bewussten Lügen aufbauende Anklage und ein Prozess, der all das zwar feststellt, aber zugunsten einem über allem stehenden Verurteilungswillen ignoriert, entlarvt das ganze Schauspiel als Farce – als Theater zu Lasten der Angeklagten.

Das Rechtsstaats-Theater

In diesem Theaterstück wird ein Gerichtsprozess aufgeführt, der, obwohl eine Verurteilung von vorneherein feststeht, so etwas wie ‚Rechtsstaatlichkeit‘ suggerieren soll. Die Staatsanwaltschaft gefällt sich dabei in der Rolle des ‚Hardliners‘. Mit krassen Sprüchen, schwerwiegenden Anklagepunkten und völlig überzogenen Forderungen liefert sie den Richter*innen die Vorlagen für ihre Rolle. Diese können sich als Hüter*innen des Rechtsstaates inszenieren. Jede Abweichung von der Forderung der Staatsanwaltschaft erscheint milde, das Gericht wirkt wie die gerechte Instanz, die den Mittelweg zwischen den Forderungen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung sucht. Im Ergebnis erscheinen harte Strafen als gar nicht mehr so schlimm und eine Abwendung größeren Übels.

Dabei ist die Strafforderung an sich schon ein Skandal. Denn wie oben beschrieben, soll das Hooligan-Urteil den Weg dafür ebnen, das reine Mitlaufen zu bestrafen. Das juristische Geplänkel um die Demo-oder-nicht-Frage gibt wiederum allen Beteiligten viel Raum sich ihrer Rolle entsprechend in Szene zu setzen. Teil dieser Aufführung sind auch die oben erwähnten Befangenheitsanträge der Staatsanwaltschaft, mit denen sie versucht, ihre ‚harte Linie‘ zu unterstreichen.

Auch wenn es an der hier skizzierten Rollenverteilung nichts Wesentliches geändert hätte, gehört die vorsitzende Richterin gerade im G20-Kontext doch eher zu den Gemäßigteren. Oder anders ausgedrückt, es hätte mit anderen Richter*innen auch schlimmer kommen können und die Lügen der Polizei wären zum Beispiel gar nicht thematisiert worden. Wäre „sozialdemokratisch“ ein anerkanntes Schimpfwort, würde es das Verhalten der Richterin gut beschreiben: in etwas Pseudokritik verpackt, die gleiche Scheiße wie alle verzapfen.

Doch auch jenseits dessen ist das, was da gespielt wird kaum mehr als ein Rachezug für die bürgerliche Ordnung. Denn natürlich steht am Ende dieser Inszenierung nicht der eigentlich fällige Freispruch oder eine Einstellung, sondern das von Beginn an geplante Urteil. Von den enormen Belastungen der Angeklagten mit U-Haft, einem über 18-Monatigen Prozess und einer weitreichenden, diffamierenden Medienkampagne mal ganz zu schweigen.

Als bisher letzten Akt des Schauspiels schwafelt die vorsitzende Richterin bei der Urteilsverkündung gar noch davon, dass dieses Urteil jetzt aber nicht für andere Urteile herangezogen werden solle – ein doch eher lächerlicher Versuch sich aus der Verantwortung zu ziehen. Denn das Dank der rechtsstaatlichen Inszenierung auf den ersten Blick milder erscheinende Urteil hat es in sich – so viel kann man auch ohne die schriftliche Begründung schon sagen. Jenseits der strafrechtlichen Bedeutung kann dieses Urteil auch eine Basis für zivilrechtliche Ansprüche, wie bspw. Schadensersatz, gegenüber den Angeklagten darstellen. Kosten, die für jeden Einzelnen eine immense Belastung bedeuten – und das völlig unabhängig von eigenen Taten.

Was bleibt?

Dieser Prozess zeigt wieder mal in aller Deutlichkeit, dass es uns niemals um bessere Urteile innerhalb des Systems gehen kann. Inszeniert wird hier die gerechte Vergeltung eines Systems gegenüber denjenigen, die es wagen, die herrschende Ordnung in Frage zu stellen. Dabei muss für uns klar sein, dass ein System, das systematisch Menschen entrechtet, ermordet und weltweit auch in anderen Staaten dazu aktive Unterstützung leistet, in seinen Handlungen gestört und in seiner Ordnung gefährdet gehört.

Was lässt sich nun aus dem Geschriebenen für die tägliche Praxis ableiten? Einige wichtige Fragen sind zu diesem Zeitpunkt leider nicht abschließend zu beantworten. Ohne das schriftliche Urteil bleiben die Argumente des Gerichts nur vage und Richter*innen sind generell nicht an die mündliche Argumentation gebunden. Diese kann im schriftlichen Urteil wieder ganz anders ausfallen. Was jedoch sicher gesagt werden kann ist, dass es ein politischer Prozess war auf dessen Grundlage es niemals zur einer Verurteilung hätte kommen dürfen. Die Anklage war von Anfang an darauf aus, mit der Forderung nach einem völlig überzogenen Strafmaß, selbst nach einer Abmilderung durch das Gericht, hohe Strafen zu erreichen. Auch wird dieses Urteil mit ziemlicher Sicherheit als Vorlage und Bezugspunkt für weitere Urteile herangezogen werden. Da hilft es wenig, wenn die vorsitzende Richterin dies eigentlich ausschließen möchte.

Trotz der bald zu erwarteten Urteilsbegründung sind die Urteile nicht gleich rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft ist weiter auf hohe Strafen aus und hat für alle Angeklagten Revision beantragt. Auf der anderen Seite akzeptiert auch Loïc das ungerechte Urteil nicht und geht ebenfalls in Revision.

Demo in Göttingen am 11.7.2020 (Bild: Links Unten Göttingen)

Dieser Prozess und dieses Urteil sind ein eindeutiger Versuch, die Aktionsform Demo zu kriminalisieren und zu verunmöglichen. Die juristische Auseinandersetzung darum ist aber auch jenseits des Elbchaussee-Prozesses noch nicht vorbei. Ihren nächsten Schauplatz wird sie, wie bereits erwähnt, im noch nicht abgeblasenen Rondenbarg-Verfahren finden.3) Dabei liegen Anklageschriften gegen ca. 80 Genoss*innen vor und es wird ebenfalls versucht, Menschen für das Ausüben ihres angeblich rechtsstaatlich gewährten Demonstrationsrechts zu kriminalisieren. Während in den letzten Jahren rechte Polizist*innen für das illegale Anhäufen von Munition und Waffen lediglich Bewährungsstrafen bekommen haben, wird mit riesigem Aufwand gegen Personen ermittelt, die lediglich an einer Demonstration teilgenommen haben. Aber auch diese Repression wird uns nicht abschrecken. Denn unser Aktivismus zeigt immer wieder auf, dass ihre Ordnung nicht so unangreifbar ist, wie einige es gerne hätten!

Fußnoten

1) siehe auch:
Neuigkeiten von Loïc Citation
Die Mauern niederreißen, die den Knast von der Außenwelt trennen (UWS)
Prozesserklärung von Loïc
2. Prozesserklärung von Loïc

2) Sowohl die Art und Weise, wie diese Einlassungen der Frankfurter/Offenbacher Angeklagten zustande kamen, als auch eine Analyse und Bewertung des Umgangs damit würde einen eigenen Text füllen und soll deswegen hier nicht weiter betrachtet werden.

3) Hintergrund-Informationen zum Rondenbarg-Prozess

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